Kapitel: Gefäßmalformationen assoziiert mit anderen Anomalien
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Update: 2021/01/15
Autor/en: Tinschert, Sigrid | Wohlgemuth, Walter A.
Malformationen von Gefäßen (Venen, Arterien, Lymphbahnen) treten entweder singulär, eine Gefäßart betreffend („einfache“ oder singuläre Malformationen) oder als Kombination von Fehlbildungen verschiedener Gefäßarten (kombinierte Malformationen) auf. Zusätzlich zu einer Gefäßmalformation können weitere Anomalien vorliegen, die keine Sekundärfolgen oder Komplikationen der Malformation darstellen.
Die Krankheiten, bei denen Gefäßfehlbildungen regelmäßig mit weiteren Anomalien kombiniert sind, werden als „Gefäßmalformationen assoziiert mit anderen Anomalien“ zusammengefasst. Eine typische Anomalie ist der lokalisierte Überwuchs. Deshalb gehören diese Krankheiten zur Gruppe der „Syndrome mit lokalisiertem (oder: umschriebenem bzw. regionalem) Überwuchs“.
Im Unterschied zu Syndromen mit generalisiertem Großwuchs, den sog. „Großwuchssyndromen“, ist beim lokalisierten Überwuchs nie der gesamte Körper betroffen. Häufig zeigen einzelne Gliedmaßen oder Gliedmaßenabschnitte ein verstärktes Wachstum, woraus ein asymmetrischer Extremitätengroßwuchs resultiert.
Zugrunde liegt eine Hyperplasie von Stützgewebe (Knochen und Sehnen), Bindegewebe und/oder Fettgewebe. Aber auch außerhalb der Extremtäten, zum Beispiel am Rumpf, kann es zu lokalisierten Hyperplasien der genannten Gewebe kommen. Schließlich können Hyperplasie-Phänomene der Haut vorhanden sein (z. B. Epidermale Nävi).
Die Art der vorliegenden Gefäßmalformationen, Charakteristika des Großwuchses sowie das Vorhandensein bestimmter weiterer Anomalien sind Grundlage für die Zuordnung zu einem der folgenden Syndrome mit lokalisierten Überwuchs.
Vom genetischen Standpunkt aus betrachtet sind Syndrome mit regionalem Überwuchs (mit oder ohne Gefäßbeteiligung) typischerweise sog. „Mosaikkrankheiten“; sie beruhen auf Genmutationen, die sich erst nach der Befruchtung (postzygotisch) während der Embryonalentwicklung ereignet haben. Die betreffenden Personen besitzen dadurch neben mutationstragenden Zellen auch einen individuell unterschiedlichen Anteil an Zellen ohne Mutation. Das Gemisch aus Zellen mit und ohne Mutation wird als „genetisches Mosaik“ bezeichnet. Die Existenz zweier genetisch differenter Zellklone erklärt das Auftreten der Krankheitszeichen in bestimmten Körperregionen, während andere Körperregionen nicht betroffen sind. Das klinische Bild wird wesentlich bestimmt erstens vom Zeitpunkt der Mutation in der Embryonalentwicklung (je früher, umso umfänglicher ist die Ausdehnung) und zweites vom Zelltyp und dem Differenzierungsgrad der Zelle, in der sich die Mutation ereignete (daraus folgt die Art der involvierten Gewebe).
Aus einem Mosaikgeschehen resultiert eine enorme Vielgestaltigkeit. So wird allein durch Mutationen des Gens PIK3CA ein ganzes Spektrum von klinisch sehr differenten Phänotypen verursacht. Diese Krankheiten werden unter dem Überbegriff „PIK3CA-Related Overgrowth Spectrum“ (PROS) zusammengefasst. Dazu gehören die Überwuchssyndrome mit Gefäßanomalien (Klippel-Trenaunay-Syndrom, CLOVES-Syndrom, CLAPO-Syndrom, Megalenzephalie-Kapilläre Malformationen), aber auch Krankheiten, bei denen Gefäßmalformationen eine geringere oder keine Rolle spielen (Fibroadipöser Gigantismus, Hemihyperplasie-Lipomatose, Isolierte muskuläre Hyperplasie, Isolierte Makrodaktylie).
Aus dem Zellmosaik ergibt sich eine wichtige diagnostische Besonderheit: Will man die Mutation (z. B. zur Diagnosesicherung) nachweisen, muss unbedingt klinisch betroffenes Gewebe möglichst nativ (ohne Formalinfixierung) untersucht werden. Der Versuch eines Nachweises im Blut ist i. d. R. erfolglos. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Syndrome mit regionalem Überwuchs nicht erblich, weshalb keine Wiederholungswahrscheinlichkeit bei Geschwistern des Patienten oder dessen Nachkommen besteht.
Die bei Syndromen mit regionalem Überwuchs bisher in den involvierten Geweben nachgewiesenen Mutationen betreffen Gene, deren Proteine entweder im Phosphatidylinositol(PI)3-Kinase(PIK3)/AKT/mTOR-Signalweg, oder im RAS/MAP-Kinase(MAPK)-Signalweg eine Rolle spielen. Beide Signalkaskaden sind unter anderem an der Bildung und Reifung von Blutgefäßen beteiligt. Eine Fehlregulation, typischerweise eine aktivierende Überregulierung dieser Signalwege, führt zu verstärktem Zellwachstum und Anti-Apoptose. Eine Überaktivierung kann einerseits durch Aktivierung der Agonisten (AKT1, PIK3CA, GNAQ, GNA11, RAS, RAF, MAP2K1) oder aber durch Inaktivierung der Antagonisten (PTEN, RASA1) erfolgen.
Für die einzelnen Syndrome mit regionalem Überwuchs sind jeweils bestimmte Gefäßmalformationen charakteristisch. Dennoch gibt es Überlappungen, weshalb allein aufgrund der Gefäßmalformationen eine genaue Syndromzuordnung nicht möglich ist.