Primäres Lymphödem

Grundlagen und Definition

Das Lymphödem ist im Gegensatz zum häufigen sekundären „allgemeinen Ödem“ nicht Folge einer von vielen zugrundeliegenden Erkrankungen wie Herzschwäche, Venenschwäche oder Niereninsuffizienz, sondern ein eigenständiges, chronisches, zur Progression neigendes Krankheitsbild. Es beruht auf einer Insuffizienz des Lymphdrainagesystems, diese kann angeboren (primäres Lymphödem) oder erworben sein (sekundäres Lymphödem).

Die Transportkapazität der Lymphgefäße ist zu niedrig, um die anfallenden lymphpflichtigen Lasten aufzunehmen. Die primäre (anlagebedingte) oder sekundäre (erworbene) Schädigung des Lymphdrainagesystems kann auf verschiedenen Ebenen vorliegen. Dies betrifft dann die initialen Lymphgefäße (Lymphkapillaren, Lymphsinus), die Präkollektoren, die Lymphkollektoren, die Lymphstämme und/oder Lymphknoten und führt auch zu einer chronischen, entzündlichen Schädigung des Interstitiums. Diese vermehrte und veränderte Flüssigkeit im Interstitium ist auch verantwortlich für den typischen fibrosklerotischen Umbauprozess beim Lymphödem im längeren Verlauf.

Die häufigste Form ist das sekundäre Lymphödem (erworben durch Schädigung/Verletzung des Lymphtransportsystems) mit ca. 89 Prozent gegenüber dem primären Lymphödem (angeborene Lymphaufnahme- bzw. Lymphtransportstörung) mit ca. 11 Prozent.

Die Inzidenz primärer bereits bei Geburt manifester Lymphödeme liegt bei ca 1 : 6.000, die Prävalenz manifester primärer Lymphödeme bei unter 20-Jährigen bei ca 1 : 87.000.

 

Einteilung des Lymphödems nach der Ursache lymphovasculärer und lymphonodulärer Erkrankungen:

Primäres LymphödemSekundäres Lymphödem

Lymphgefäß-Aplasie/Atresie

Lymphgefäß-Hypoplasie

Lymphgefäß-Hyperplasie

Lymphknoten-Fibrose

Lymphknoten-Agenesie

„Sekundär benignes Lymphödem“:
Nach kurativer onkologischer Therapie
(st. p. Lymphadenektomie, Radiatio)

„Sekundär malignes Lymphödem“:
Bei aktivem Malignom
(Abflußbehinderung durch Primum, Metastase,
Lymphangiosis carcinomatosa)

„Sekundär chronisches Lymphödem“:
Nach nicht-onkologischen Schädigungen des Lymphtransports
(Venenentnahme zur Bypass-Operation,
posttraumatisch, postinfektiös, artifiziell, Spätstadium der CVI)

 

Das primäre Lymphödem ist die Folge einer genetischen Prädisposition, die entweder autosomal-dominant oder autosomal-rezessiv erblich ist. Genaueres hierzu siehe »Genetische Grundlagen«.

 

Einteilung des Lymphödems nach dem Zeitpunkt der klinischen Manifestation:

a) Manifestationsalter beim primären Lymphödemb) Manifestationsverlauf

“Kongenital” (im Sinne von konnatal)

Lymphoedema praecox (< 35. LJ)

Lymphoedema tardum (> 35. LJ)

Akut

Subakut

Spät

Chronisch

 

Mittlerweile sind mehrere Gene bekannt, deren Mutation mit Lymphödemen assoziiert sind. Dabei kann es sich um isolierte Lymphödeme oder auch komplexe Syndrome handeln, die mit Lymphödemen einhergehen. Siehe auch »Genetische Grundlagen«.

Für eine stadiengerechte Therapie ist die korrekte Klassifikation des Lymphödems nötig. Das bedeutet, erst nach Beurteilung des Lymphödemstadiums soll die Entscheidung über die Einleitung einer ambulanten Therapie oder über die Zuweisung zur stationären Therapie getroffen werden.

Stadien des Lymphödems:

Stadium 0: Keine Schwellung, aber pathologisches Lymphszintigramm („Latenzstadium“).

Stadium I: Ödem von weicher Konsistenz, Hochlagern reduziert die Schwellung („spontan reversibles Stadium“).

Stadium II: Ödem mit sekundären zunehmenden Gewebsveränderungen, Hochlagern ohne Wirkung; („spontan irreversibles Stadium“).

Stadium III: Harte Schwellung, häufig lobuläre Form („deformierendes Stadium III“) mit typischen Hautveränderungen – früher abfällig als „Elephantiasis“ bezeichnet.

Diagnostik

In den letzten Jahren hat sich durch verbesserte diagnostische und therapeutische Möglichkeiten und nicht zuletzt durch eine zunehmende Mündigkeit der PatientInnen und Angehörigen mit ihrer Forderung nach adäquater Therapie das Problembewusstsein für lymphologische Erkrankungen in der Gesellschaft geschärft.

Um die Diagnose Lymphödem klinisch stellen zu können, reicht in den allermeisten Fällen die Basisdiagnostik, diese besteht aus den 3 Säulen: Anamnese – Inspektion – Palpation.

Checklisten erleichtern die Diagnoseerfassung und sollen verhindern, dass Aspekte der Erkrankung nicht berücksichtigt werden.

Trotz dieser wirklich nicht aufwändigen Untersuchungsmethode besteht noch immer ein deutliches Defizit im Wissen um die zum Teil sehr einfachen diagnostischen Schritte zur Diagnosesicherung und auch der entsprechenden stadiengerechten Therapie des Lymphödems.

Die 3 Säulen der lymphologischen Basisdiagnostik sind: Anamnese, Inspektion und Palpation.

Ein Workflow mit Checklisten für Anamnese, Inspektion und Palpation sollte im Rahmen der klinischen Untersuchung des Patienten „abgearbeitet“ werden, dadurch kann sowohl die Diagnose des Lymphödems gefestigt, als auch die Ursache und Ausprägung bestimmt werden. Somit wird das Lymphödem korrekt klassifiziert und kann in weiterer Folge einer stadiengerechten Therapie zugeführt werden.

Checkliste „Anamnese“

  • Erhebung der Allgemeinen Anamnese: (familiäre Häufung, Verdacht auf Heredität, Vorerkrankungen, Schnürfurchen, chirurgische Eingriffe, Unfälle, abgelaufene entzündliche Prozesse -vor allem Erysipele, Immobilisation aufgrund orthopädischer oder neurologischer Erkrankungen, vegetative Anamnese)
  • Spezielle Ödemanamnese: (zeitlicher Verlauf der Ödementstehung, auslösender Faktor, Erstlokalisation des Ödems, Dauer des reversiblen Stadiums, Progredienz, Triggerfaktoren (wie Hitze oder Orthostase), Häufigkeit von Erysipelen, anamnestisch Lymphorrhoe oder Lymphzysten, lymphologische Vorbehandlungen)

Checkliste „Inspektion“

  • Ödem-Verteilung: Ein- oder Beidseitigkeit der Schwellung, (typische) Asymmetrie der Schwellung, evtl. Längendifferenz der Extremitäten, Lokalisation der Schwellung (distal, proximal, generalisiert, stammbezogen)
  • Hautbefund: Farbe, trophische Störungen, Ulzerationen, Pigmentierung, Narben, Schnürfurchen, Papillomatosis cutis lymphostatica, Erythem (Erysipel, Erythrodermie), Hyperkeratose, ektatische Hautlymphgefäße, Lymphzysten, Lymphfisteln, Pilzbefall, Hautfalteneinziehungen (vertiefte, nicht verstreichbare Hautfalten), Kastenzehen, gestörtes Nagelwachstum mit Dorsaldeviation

Checkliste „Palpation“

  • Ödemkonsistenz: teigig weich, prall elastisch, derb fibrotisch, hart induriert
  • Dellenbildung (pitting edema): eindrückbar, bleibend
  • Hauttemperatur: normal, kühl, erhöht
  • Stemmer’sches Zeichen: Hautfaltenabhebbarkeit über der proximalen Phalanx des zweiten und dritten Strahls
  • Gewebe-Induration-Fibrosierung
  • Lymphknoten (vergrößert weich, prall, derb verbacken, verschieblich, druckdolent)
  • Gefäßstatus (periphere Pulse, Venenfüllung), orthopädisch-neurologischer Status und Funktionseinschränkungen

In der AWMF-S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Lymphödeme sind diese Checklisten für Anamnese, Inspektion und Palpation im Anhang (ab Seite 89) verfügbar (siehe »Empfohlene Literatur«).

Weiterführende bildgebende Diagnostik

Nur wenn durch die klinische Basisdiagnostik eine Diagnosestellung oder eine eindeutige Klassifizierung des Lymphödems nicht möglich ist, wird die bildgebende Zusatzdiagnostik notwendig (z. B.: bei Lymphödemen im Frühstadium ohne Fibrosierungszeichen, oder bei ödeminduzierenden, bzw. aggravierenden Komorbiditäten).

Bei Verdacht auf komplexe Syndrome bzw. Mitbeteiligung innerer Organe ist die erweiterte apparative Diagnostik nötig, also Bildgebung und weitere Untersuchungen hinsichtlich Flüssigkeitsansammlungen in den Körperhöhlen: Chylothorax, Chylopericard, Chylaskos, Gelenksergüsse. Zudem bildgebende Diagnostik auf vaskuläre Malformationen und Dysmorphiesyndrome, z. B. mittels Duplexsonographie, CT, MR – Angiographie, DSA, ergänzt durch genetische Untersuchungen.

Zur erweiterten apparativen und bildgebenden Lymphödemdiagnostik zählen Ödem-Sonographie, indirekte Lymphangiographie, Magnetresonanztomographie, Funktionslymphszintigraphie, Indocyanine green (ICG), Near-infrared fluorescent imaging (NIRF).

Ödem-Sonographie: Bei der Sonographie wird mittels hochauflösender (> 13 MHz-) Ultraschallsonde die Cutis- und Subcutisdicke vermessen, die Komprimierbarkeit der Subcutis durch Sondendruck ermittelt (Sonoelastographie) und sonomorphologische Kriterien des chronischen Lymphödems wie Verbreiterung der Subcutis mit erhöhter Echogenität untersucht.

Indirekte Lymphographie: Die indirekte Lymph(angi-)ographie mittels wasserlöslichem Kontrastmittel dient zur Sichtbarmachung der peripheren Lymphgefäße mit Beurteilung des Kontrastmittelausbreitungsmusters. Die Wertigkeit wird kontrovers diskutiert.

Magnetresonanz-Lymphographie: Mittels MR-Lymphographie können auch subfasziale Flüssigkeitsanteile erfasst und die großen Lymphbahnen in den Körperhöhlen (Cisterna chyli, Ductus thoracicus) dargestellt werden. Es liegen allerdings derzeit noch wenige Daten vor.

Direkte Lymphographie: Entweder nach Präparation eines Lymphgefäßes am Fuß (pedale Lymphographie) oder über Punktion eines Lymphknotens der Leiste (intranodale Lymphangiographie) direkte Darstellung der Lymphgefäße durch direkte Injektion von ölhaltigem Kontrastmittel, das über die Lymphleiter abfließt und unter Durchleuchtung dargestellt werden kann

Lymphszintigraphie: Diese ist weniger eine bildgebend morphologische, sondern eine funktionelle Untersuchung des Lymphtransports. Die Lymphszintigraphie gilt derzeit als Goldstandard in der funktionellen Diagnostik, mit der Einschränkung, dass einheitliche Mess-Standards und Protokolle mit statischer und dynamischer Phase, Tiefen- bzw. BMI-Korrektur etc. für eine Vergleichbarkeit der Messergebnisse unerlässlich und nicht immer erfüllt sind. Subklinische Lymphödeme (im Latenzstadium 0) können bisher nur durch die Lymphszintigraphie erfasst werden (pathologisch eigeschränkte Lymphtransportleistung bei noch fehlenden klinischen Zeichen).

Fluoreszenzmikrolymphographie: Die Untersuchung mit FITC (Fluoreszein-Isothiocyanate) unter Fluoreszenz –Auflichtmikroskop gibt Informationen über die Morphologie der Lymphkapillaren. Sie ermöglicht die Darstellung der initialen Lymphgefäße (Lymphkapillaren) und Hinweise auf deren Pathologie (in der EU off-label).

Near-infrared fluorescent imaging (NIRF): Die NIRF-Bildgebung basiert auf einer intradermalen Injektion des Fluoreszenzfarbstoffs Indocyaningrün (ICG), der über die initialen Lymphgefäße in der Dermis aufgenommen und über die oberflächlichen Lymphbahnen zentripetal in Richtung der Lymphknoten abtransportiert wird. Dies ermöglicht eine nahezu Echtzeit-Visualisierung des lymphatischen Abflusses.

Konservative Therapie

Der Goldstandard in der Lymphödem-Therapie ist die KPE (Komplexe physikalische Entstauungstherapie).

Sie besteht aus 2 Phasen, wobei in der Phase 1 (Entstauungsphase) die Mobilisierung der vermehrten interstitiellen Flüssigkeit und eine gewisse Fibroselockerung erreicht werden sollen.

In der Phase 2 (Erhaltungsphase) wird der erreichte Therapieerfolg konserviert und nach Möglichkeit optimiert.

Die Entscheidung, ob eine ambulante Therapie möglich oder doch eine stationäre Therapie notwendig ist, muss im Einzelfall getroffen werden. Generell gilt als Richtlinie das Lymphödemstadium, die Lokalisation des Lymphödems, Komorbiditäten und Alter des Patienten.

Bei Kleinkindern sollte zumindest initial eine stationäre Behandlung erfolgen, da die Eltern zur intensiven Schulung mit aufgenommen werden, damit die erlernten Therapiemaßnahmen zu Hause konsequent und auf Dauer weitergeführt werden können.

Bei gleichzeitig bestehendem Chylothorax, Chyloperikard, eiweißverlierender Enteropathie, sowie bei ausgeprägten Lymphzysten/Lymphfisteln ist eine Therapie unter stationärer Observanz erforderlich.

Therapieziele der KPE

  • Hautsanierung
  • Ödem- und Volumenreduktion
  • Reduktion der Fibrose
  • Steigerung der Gelenksbeweglichkeit
  • Schulung der Patienten/Angehörigen im Selbstmanagement, im richtigen Umgang mit der Kompressionsversorgung, der Selbstbandage und der Entstauungsgymnastik

Weitere Ziele sind die Prophylaxe von Spätkomplikationen wie Hyperkeratosen, Papillomatosis cutis lymphostatica und das Vermeiden von Hautinfektionen durch Pilze oder Bakterien (Erysipel).
Die stationäre lymphologische Rehabilitationsbehandlung bedeutet eine 3-wöchige intensive tägliche „Phase 1“ der komplexen physikalischen 2-Phasen-Entstauungstherapie.

Die „Phase 1“ umfasst die 5 Säulen der KPE:

  • Hautsanierung/Hautpflege
  • Manuelle Lymphdrainage
  • Kompressionsbandagierung
  • Entstauungsgymnastik
  • Schulung/Empowerment der Patienten/Angehörigen zur Selbstbehandlung

Am Ende der „Phase 1“ der komplexen physikalischen 2-Phasen-Entstauungstherapie erfolgt im entstauten Zustand die Anpassung maßgefertigter, flachgestrickter individueller Kompressionsware. Hier muss individuell die Art und Stärke der Kompression (KKL I–IV) festgelegt werden. Im Säuglingsalter erfolgt lediglich die Bandagierung, ab dem 2. Lebensjahr wird mit der Maßstrumpfversorgung der Kompressionsklasse 1 begonnen, ab dem Schulalter kommt auch eine höhere Kompressionsklasse zur Anwendung. Die Versorgungsintervalle liegen auf Grund des kindlichen Wachstums in der Regel bei 3–6 Monaten.