Genetische Grundlagen der Gefäßmalformationen

Erbgänge und Mosaike

Bei den Gefäßmalformationen spielen sowohl vererbbare Mutationen (Keimbahnmutationen, konstitutionelle Mutationen) als auch nicht erbliche Mosaikmutationen (postzygotische Mutationen, somatische Mutationen) eine Rolle. In diesem Kapitel werden die genetischen Grundlagen zusammengefasst und nur in Ausnahmefällen (bei den Mosaiken) wird Bezug genommen auf konkrete Krankheiten.

Erbgänge

Krankheiten, die durch Mutationen eines einzelnen Gens verursacht werden, nennt man monogene Krankheiten. Die Vererbung erfolgt nach den Mendelschen Regeln (Mendel-Erbgänge).

Das menschliche Genom ist in 46 Chromosomen organisiert. Mit Ausnahme der Geschlechtschromosomen beim Mann liegen die Chromosomen als 23 Paare jeweils identischer (homologer) Chromosomen vor. Ein Chromosom eines Paares stammt von der Mutter, das andere vom Vater. Die Paare der einander entsprechenden Gene werden Allele genannt; sie befinden sich an der gleichen Stelle der homologen Chromosomen (= Genort). Die beiden Allele können identisch (homozygot) oder unterschiedlich sein (heterozygot). Tragen beide Allele unterschiedliche Mutationen spricht man von Compound-Heterozygotie. Da ein Mann, im Gegensatz zur Frau, zwei nichthomologe Geschlechtschromosomen X und Y besitzt, haben die X-chromosomalen Gene keine homologe Entsprechung auf dem Y-Chromosom; sie liegen „hemizygot“ vor (Ausnahme: Gene der pseudoautosomalen Region).

Die Verteilung (Segregation) elterlicher Genotypen bei deren Nachkommen wird durch die Allele der Eltern bestimmt und unterliegt den Mendelschen Gesetzmäßigkeiten.

In einem Stammbaum werden die wichtigsten genetischen Informationen einer Familie übersichtlich dargestellt. Dabei sollten einheitliche und eindeutige Symbole benutzt werden. Weibliche Personen werden als Kreise, männliche Personen als Quadrate dargestellt. Ist die Person erkrankt, wird das Symbol gekennzeichnet (z. B. schwarz ausgezeichnet).

Autosomal-dominanter Erbgang

Charakteristika:

  • Krankheitsmerkmale treten bereits auf, wenn eine Mutation heterozygot vorliegt (ein verbleibendes Wildtypallel).
  • Für jedes Kind eines Erkrankten besteht eine 50 %ige Wahrscheinlichkeit, die krankheitsursächliche Mutation zu erben (und auch zu erkranken).
  • Erkrankte können in mehreren Generationen vorkommen.
  • Das Geschlecht spielt für die Vererbung keine Rolle.
  • Eine Vater-Sohn-Vererbung ist möglich.
  • Wenn eine autosomal-dominant vererbbare Krankheit innerhalb einer Familie bei einer Person erstmals auftritt, dann hat sich eine Neumutation ereignet.

Autosomal-rezessiver Erbgang

Charakteristika:

  • Krankheitsmerkmale treten erst auf, wenn Mutationen homozygot (zwei identische Mutationen am selben Genort) oder compound-heterozygot (zwei unterschiedliche Mutationen am selben Genort) vorliegen. Es verbleibt kein Wildtyp-Allel.
  • Bei Kindern von heterozygoten Anlagenträgern besteht eine Erkrankungswahrscheinlichkeit von 25 %.
  • Kranke kommen vor allem innerhalb von Geschwisterschaften vor.
  • Das Geschlecht spielt für die Vererbung keine Rolle.
  • Bei Blutsverwandtschaft der Eltern ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten autosomal-rezessiver Krankheiten bei den Kindern erhöht.
  • Bei geringen Familiengrößen (wenige Kinder in einer Geschwisterschaft) treten autosomal-rezessive Krankheiten häufig als Einzelfälle in einer Familie auf.

X-chromosomaler Erbgang

Männer haben im Gegensatz zu Frauen jeweils nur ein Allel für alle X-chromosomalen Gene (Ausnahme: pseudoautosomale Region). Wenn das mutierte Gen auf dem X-Chromosom lokalisiert ist, spricht man bei Männern von einer hemizygoten Mutation, bei Frauen dagegen von einer heterozygoten Mutation. Nur bei Frauen findet sich in diesem Fall ein Wildtypallel am zweiten Genort, das die Wirkung des mutierten Allels mehr oder weniger kompensieren kann. Personen, die eine Mutation tragen, ohne erkennbar erkrankt zu sein, sind „Konduktoren“.

Charakteristisch beim X-chromosomalen Erbgang ist eine geschlechtsabhängige Ausprägung. Das männliche Geschlecht ist schwerer betroffen. Beim typischen X-chromosomalen Erbgang treten mehrere erkrankte männliche Personen in aufeinanderfolgenden Generationen auf, jeweils verbunden über die weibliche Linie.

Mosaike

Vielen Gefäßanomalien, ob isoliert vorkommend oder im Rahmen komplexer Syndrome, liegen genetische Mosaike zugrunde.

Ein Mosaik im biologischen Sinn, ist ein Organismus, der aus zwei oder mehr genetisch verschiedenen Zellpopulationen besteht, die einer Zygote entstammen. Ursache für die genetischen Unterschiede der Zellpopulationen können frühe postzygotische oder auch späte (somatische) Mutationen sein. Der Zeitpunkt der Mutation(en) bestimmt Ausmaß (Schwere) und das Muster der Veränderungen. An der Haut sind Mosaike besonders augenfällig. Ein typisches Beispiel für ein kutanes vaskuläres Mosaik, früh postzygotisch entstanden, ist der Naevus flammeus. Späte somatische Mutationen, die zusätzlich zu einer Keimbahnmutation zu einem Komplettausfall des entsprechenden Genprodukts führen, spielen nicht nur eine große Rolle in der Tumorgenese (Hypothese des second hit = Knudson-Hypothese), sondern auch bei vaskulären Malformationen.  So haben somatische Mutationen z.B. eine Bedeutung bei der Entstehung der Teleangiektasien beim Osler-Syndrom oder der RASA1-assoziierten CM-AVM.

Darüber hinaus wird das Erscheinungsbild (Phänotyp) bestimmt durch (a) das Expressionsmuster des Gens (in welchen Geweben wird es exprimiert), (b) durch die Zellart (deren Gewebezugehörigkeit), in der das Mutationsereignis erfolgte, (c) den Differenzierungsgrad der Zelle zum Mutationszeitpunkt, (d) der Lokalisation der mutierten Zelle im Körper.

Im Zusammenhang mit isolierten Gefäßmalformationen und Gefäßmalformations-Syndromen spielen besonders die frühen postzygotischen Mosaike eine Rolle, die zu segmentalen Mustern führen. Man unterscheidet zwei Arten, das häufige Typ1- und das seltene Typ 2-Mosaik.

Typ1-Mosaik

Das Typ1-Mosaik basiert auf einer frühembryonalen aktivierenden Mutation eines Agonisten einer Signalkaskade (z. B. PIK3CA oder AKT1 im Phosphatidylinositol(PI)3-Kinase(PIK3)/AKT/mTOR-Signalweg). Solche frühen heterozygoten Mutationen führen zu regionalen und großflächigen Läsionen. Es handelt sich um schwere Mutationen, die nur im Mosaik mit dem Leben vereinbar sind. Deshalb sind diese Krankheiten nicht erblich. Das Typ1-Mosaik liegt den meisten Gefäßmalformationssyndromen mit Überwuchs zugrunde.

Typ2-Mosaik

Das Typ2-Mosaik basiert auf einer bereits vorhandenen konstitutionellen (ererbten) Funktionsverlustmutation eines Antagonisten der entsprechenden Signalkaskade (z. B. PTEN im Phosphatidylinositol(PI)3-Kinase(PIK3)/AKT/mTOR-Signalweg oder RASA1 im RAS-MAPK-Signalweg), zu der eine zusätzliche frühembryonale second-hit Mutation hinzukommt. Der komplette Funktionsverlust des Gens durch Mutation beider Allele führt zu einem goßflächigen regionalen Phänotyp. Die konstitutionelle Mutation ist erblich – deshalb können Typ2-Mosaikkrankheiten (selten) auch familiär auftreten; das Konzept dieser sog. paradominanten Vererbung wurde 1992 von Rudolf Happle entwickelt.

Bedeutung für den Mutationsnachweis: Die Mutation des Typ1-Mosaiks ist nur im betroffenen Gewebe nachweisbar und in der Regel nicht im Blut. Beim Typ2-Mosaik ist nur die konstitutionelle Mutation im Blut vorhanden. Deren Identifikation genügt allerdings für die Diagnosestellung. Der second-hit des Typ2-Mosaiks ist ebenfalls nur im betroffenen Gewebe nachweisbar.

Genetische Beratung

Aufgabe einer genetischen Beratung ist es, Patienten und ihre Familien über vorliegende genetische Krankheiten zu informieren. Die genetische Beratung erfolgt durch einen speziell qualifizierten Arzt, in Deutschland i. d. R.  einen Facharzt für Humangenetik oder einen Arzt, der die Zusatzbezeichnung Medizinische Genetik erworben hat. Davon zu unterscheiden ist die fachgebundene genetische Beratung, die laut Gendiagnostikgesetz (GenDG) durch Fachärzte anderer Fachgebiete im Rahmen des jeweiligen Gebietes, ausgenommen im Rahmen prädiktiver Untersuchungen, vorgenommen werden kann.

Der konkrete Inhalt der humangenetischen Sprechstunde richtet sich nach der individuellen Fragestellung des Ratsuchenden; im Wesentlichen geht es um Ursache, Prognose und Wiederholungs-wahrscheinlichkeit einer Krankheit. Diese Fragen sind nur auf der Basis einer gesicherten und ätiologisch orientierten Diagnose zu beantworten. Die Diagnose(sicherung) steht deshalb im Mittelpunkt einer jeden genetischen Beratung.

Zur Diagnosefindung werden zunächst die Eigenanamnese erhoben, Befunde gesichtet und eine Familienanamnese (Stammbaum) über mindestens drei Generationen erstellt.

Entsprechend der Fragestellung werden ggf. körperliche Untersuchungen unter klinisch-genetischen Gesichtspunkten („Phänotypanalyse“) durchgeführt, weitere Untersuchungen mit anderen Fachabteilungen koordiniert (z. B. radiologische Bildgebung, biochemische Diagnostik) und spezielle genetische Laboruntersuchungen (Karyotypisierung, molekulargenetische Untersuchungen) veranlasst. Wenn es sich um seltene Fehlbildungskomplexe handelt wird versucht, die Symptomatik durch den Vergleich mit Datenbanken und der Fachliteratur einzuordnen.

Bei bekannter Diagnose wird den Ratsuchenden der aktuelle Wissensstand zum jeweiligen Krankheitsbild vermittelt. Dies beinhaltet auch Empfehlungen zur Vermeidung bzw. Behandlung von krankheitsspezifischen Komplikationen; eine Heilung ist in der Regel nicht möglich. Erkrankungswahrscheinlichkeiten für den Ratsuchenden selbst und Familienmitglieder werden erörtert. Bei konkretem Kinderwunsch werden Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnostik besprochen.