Was bedeutet eine angeborene Gefäßfehlbildung für Betroffene?

„Mit allem was mich ausmacht, kann ich mich nicht anders denken und, zu welchen Anteilen auch immer, mein Bein und die mit ihm verbundene Geschichte gehören dazu. ... Ich versuche meinen Lebensstil meinen Möglichkeiten anzupassen. Das bedeutet oft Rückzug und damit das Gefühl von Abgeschnitten sein. ... Geht es mir gut, werfe ich mich wieder voll rein ins Leben.“ (D.G.)

Es gibt ihn nicht: DEN einen Lebensplan mit einer angeborenen Gefäßfehlbildung

Die Krankheitsverläufe und Krankheitsausprägungen sind ebenso individuell wie das Erleben der Erkrankung und ihrer Folgen – es gibt also viele „Lebensgeschichten“. Und manchmal bedeutet ein anderer Bauplan der Gefäße auch einen anderen Lebensplan. Wie das gelingen kann, zeigen viele positive Beispiele.

Die Suche nach einer Diagnose und Therapie

Mit dem Auftreten der ersten Symptome beginnt oftmals eine lange Suche nach einem kompetenten Arzt. Belastungen entstehen bereits hier durch Zeit und Kosten bei weiten Anfahrten, wiederholt enttäuschte Hoffnungen, Fehlzeiten in Schule und Beruf, Fehldiagnosen und -therapien. Und es vergeht häufig zu viel kostbare Zeit vor dem Therapiebeginn.

In den letzten Jahren ist das Finden eines Facharztes mit Erfahrung in der Behandlung von angeborenen Gefäßfehlbildungen erfreulicherweise leichter geworden. Internetseiten, DiGGefa und Bundesverband mit Informations- und Erfahrungsaustausch führen schneller zum kompetenten Facharzt. Immer häufiger fragen auch Haus- und Fachärzte nach Informationen und Adressen und können so ihren Patienten weiterhelfen.

Wie heißt das, was ich habe?

Endlich einen Namen für die Beschwerden und für ihre Abweichung von der Norm zu haben, ist für viele Patienten wichtig, denn es gibt etwas Sicherheit zurück. Wichtig sind richtige und altersgemäße Worte um die eigene Erkrankung und die Therapie beschreiben oder erklären zu können. Die Erkrankung zu akzeptieren hilft, sie nur als einen Teil der eigenen Persönlichkeit zu sehen: in erster Linie Mensch und nicht Patient sein.

Es gibt keine einheitliche, genormte Therapie

Ist die Diagnose gestellt, ergeben sich viele Fragen und manchmal kommt ein Gefühl der Hilflosigkeit und Angst auf. Fast jeder Patient hat bereits verschiedene Therapieversuche hinter sich, bis die angemessene Therapie gefunden ist. Es gibt keine genormte Therapie. Zusätzlich erleben Patienten häufig Rezidive und müssen oftmals lebenslang in Behandlung bleiben.

Viele Patienten stehen bei notwendigen Entscheidungen zu Therapien vor einem Dilemma. Wie sollen sie etwas entscheiden, das sie nicht ganz verstehen und dessen Konsequenzen sie nicht überblicken können? Hier ist es besonders wichtig, dem Arzt vertrauen zu können.

Und auch das bedeutet eine angeborene Gefäßfehlbildung: Warten auf lindernde oder heilende Therapien. Die Wirksamkeit verschiedener Therapien und Medikamente in Studien zu vergleichen, kostet Geld und erfordert engagierte Ärzte und Forscher. Sowohl in den öffentlichen Fördertöpfen als auch bei Sponsoren finden die angeborenen Gefäßfehlbildungen aber kaum Beachtung, da sie zu den „Seltenen Erkrankungen“ gehören und damit „unlukrativ“ sind.

Der Arzt als Fachmann und Lotse

Die Erfahrungen mit Ärzten sind erwartungsgemäß sehr individuell. Neben sehr guter medizinischer Versorgung erleben Patienten aber auch problematische Aspekte: Ärzte erkennen ihre Kompetenzgrenze nicht, geben nicht rechtzeitig ab, versuchen ihre eigenen Methoden oder sagen: „Da kann man nichts machen.“ Übertherapien, inadäquate oder verschlimmernde Therapien sind die Folge. Es mangelt an Zusammenarbeit sowohl zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen als auch zwischen den Ärzten. Für selten betroffene Bereiche (z. B. Genitalbereich) gibt es wenig Fachärzte.

Patienten haben erlebt, dass sie allein gelassen werden wenn es schwierig wird oder ihre Beschwerden werden als psychischen Ursprungs bewertet.

Durch eine starke Spezialisierung der Ärzte gibt es nur wenige, die als Lotsen den Überblick behalten, die Behandlungen koordinieren und mögliche zukünftige Entwicklungen berücksichtigen. Zur Betreuung und Beratung wünschen sich die Betroffenen die individuelle Lebensqualität miteinzubeziehen, damit nicht das medizinisch Mögliche, sondern das individuell Sinnvolle im Vordergrund steht.

Immer häufiger suchen Patienten eine Zweitmeinung und immer mehr Ärzte haben dafür Verständnis.

Termine und Kommunikation

Kontakt und Kommunikation zwischen Patient und Arzt werden regelmäßig als schwierig erlebt: Lange Wartezeiten auf einen Termin, kaum Akutsprechstunden, Zeitdruck in den Terminen, mangelnde Versorgung und Rücksprachemöglichkeiten nach Operationen und bei Unfällen sowie unverständliche Fachsprache sind oft genannte Probleme. Sie verursachen Verunsicherung, Sorgen und viele unbeantwortete Fragen.

Unsicherheit über die Erkrankung und die Perspektiven führt manchmal zu Ängsten. Angst als etwas Natürliches und Notwendiges zeigt uns eigentlich wichtige Grenzen. Sie kann durch innere Sicherheit reduziert oder überwunden werden. Diese innere Sicherheit kann durch Vertrauen, Aufklärung und gute Erfahrungen wieder hergestellt werden.

Bei erkrankten Kinder und Jugendlichen wird häufig nicht mit ihnen, sondern über sie gesprochen. Dabei benötigen sie eine Krankheitsaufklärung, die ihrem Alter und Entwicklungsstand angemessen ist um die krankheitsbezogenen Informationen zu verarbeiten und in ihr subjektives Krankheitserleben zu integrieren.

Wenn die Gefäßfehlbildung sichtbar ist

Eine Gefäßfehlbildung zu haben, bedeutet für manche Patienten anders zu sein. Äußerlich sichtbare Merkmale sind in allen Lebenslagen präsent. Für viele Patienten ist es schwierig, das Angesehenwerden „auszuhalten“. Es ist zwar menschlich, bei Auffälligem hinzusehen, aber zum einen ist das nicht jeden Tag gleich gut zu ertragen und zum anderen gibt es auch respektloses Anstarren und wortloses Angaffen. Einige Patienten nutzen daher spezielle Camouflageprodukte zur Abdeckung der farbigen Hautareale als „Farbe für die Seele“, andere Patienten entscheiden sich bewusst dagegen, da sie sich damit fremd fühlen.

Die Reaktionen der Mitmenschen

Es gibt sehr unterschiedliche Erfahrungen. Positive Erfahrungen mit offenem Umgang, aber auch negative: Bemitleidet, übersehen oder ausgegrenzt werden, als minderbegabt wahrgenommen werden, weniger Kompetenz und Führungsstärke zugesprochen bekommen (Halo-Effekt) und auch manchmal angepöbelt und beleidigt werden. Respektlose Formulierungen oder Ansprache gibt es sogar bei einigen Ärzten.

Der Alltag

„Als Kind wollte ich wie alle anderen um mich herum laufen können, als Jugendliche litt ich unter dem Stigma anders zu sein als die anderen, als Erwachsene habe ich langsam meinen Platz, jenseits ausgetretener Pfade, gefunden.“ (D.G.)

Die Bewältigung des Alltags mit der Erkrankung stellt die Betroffenen immer wieder vor unterschiedliche Herausforderungen: Körperliche Einschränkungen, Schmerzen, spontane Blutungen, Ängste, Unsicherheiten, Ungewissheiten, Reaktionen der Mitmenschen und seelische Krisen.

Darüber hinaus fordern auch der Ärger mit Kostenträgern, Sozialversicherungsträgern und Behörden wertvolle Energie. Es geht um Kostenübernahmen von Ärzten, Therapien und Hilfsmitteln (Kompressionsware, Rollstuhl u. a.), sowie um Anträge auf Schwerbehindertenausweis mit GdB oder Beantragungen von Erleichterungen in Schule und Beruf.

Ebenso sind u. a. eine Berufsunfähigkeits- oder eine Zusatzversicherung nicht oder nur schwer zu bekommen.

Im Freizeitbereich führt mangelnde Barrierefreiheit zu starken Einschränkungen.

Die Erkrankung hat auch Auswirkungen auf nichtbeteiligte Gesundheitsbereiche und erfordert besondere, manchmal unangenehme Maßnahmen, z. B. besondere Anästhesietechniken oder Vorsichtsmaßnahmen.
Wer an Schmerzen gewöhnt ist, kann andere Schmerzen manchmal nicht als Warnsignal erkennen, z. B. bei Blinddarmdurchbruch oder Knochenmarkentzündung. Gerade Kinder erkennen dann ihre Grenzen nicht.

Mancher Umgang mit der Erkrankung mag von außen so aussehen wie Ignorieren oder mangelnde Akzeptanz, ist manchmal aber der individuelle Weg, damit die Erkrankung nicht das eigene Leben dominiert. Beschwerden oder Verschlechterungen werden verschwiegen, um die sich Sorgen machenden Eltern oder Partner nicht weiter zu belasten.

Eine als Abweichung von der „Norm“ erlebte Krankheitsentwicklung kann zu Minderwertigkeitsgefühlen, Angst vor Zurückweisung und Körperscham führen. Daraus resultieren manchmal überempfindliche Reaktionen auf Bewertungen und Vermeiden von Situationen in denen die Gefäßfehlbildung sichtbar ist, z. B. im Schwimmbad oder im Restaurant.

Kindheit und Jugendalter

„Besonders die frühe Kindheit prägte mich, da mir eingeredet worden ist, ich könne einmal ‚ein normales Leben führen und alles machen was andere (also Gesunde) auch machen können‘. Mit der Zeit realisierte ich, dass das eben doch nicht so ist und eine Behinderung vorliegt, die besondere Behandlung einfordert. Ich erhalte Unterstützung von einem Psychotherapeuten, um diese grundlegenden Einstellungen ändern zu können und meine Selbstanforderungen Schritt für Schritt der Realität anzupassen - damit ich mich nicht weiter überfordere.“ (M.S.)

Gerade Jugendliche sind oftmals in ihrem Aktionsradius eingeschränkt. Statt bis an ihre Grenzen zu gehen, müssen sie bereits mit viel Selbstdisziplin auf Regeln und auf ihre Gesundheit achten. Nicht jede Sportart ist möglich, nicht an jeder Veranstaltung können sie teilnehmen und manchmal ist sogar eine Teilnahme am Schulunterricht und an den Unternehmungen im Freundeskreis über längere Phasen nicht möglich.

In dieser Zeit ziehen sich viele Jugendliche aus der ärztlichen Begleitung zurück. Sie nehmen keine Kontrolltermine oder Therapien wahr und versuchen, ihre Erkrankung auszublenden um sich „normal“ zu fühlen.

Das Risiko, eine Angst- oder depressive Störung zu entwickeln, ist bei chronisch kranken Kindern 2 bis 3 Mal so hoch wie bei gesunden Kindern.

Transition - Erwachsenwerden mit einer angeborenen Gefäßfehlbildung

Diese Zeit stellt eine große Herausforderung für die betroffenen Jugendlichen, jungen Erwachsenen und ihre Eltern dar. Die bisherige Begleitung durch den vertrauten Arzt und die Verantwortlichkeit in der Familie verändern sich. Ein neuer Arzt muss u. U. gesucht, neues Vertrauen aufgebaut und eine neue Balance zwischen den Erfordernissen der Erkrankung und den Zielen der jungen Menschen muss gefunden werden.

In den letzten Jahren wurden glücklicherweise kooperative und interdisziplinäre Lösungen für die Phase der Transition entwickelt.

Karriere und finanzielle Aspekte

Berufliche Einschränkungen sind: Eingeschränkte Berufswahl, geringere Karrierechancen, Gehaltseinbußen mit geringeren Rentenansprüchen, Fehlzeiten. Hinzu kommen Kosten für Fahrten, Aufenthalte und notwendige, aber nicht von den Krankenkassen finanzierte Arztbesuche oder Hilfsmittel.

Die Einstufungen durch den MDK spiegeln und unterstützen häufig nicht den tatsächlichen Hilfebedarf.

Körper und Seele

„Ich glaube mittlerweile, dass es einem aber gelingen kann, mit der Krankheit so umzugehen, dass man sagen kann: Ja, ich habe eine angeborene Gefäßkrankheit. Aber das ist nur ein TEIL von mir. Wie stark die Krankheit ist, liegt eventuell oft auch daran, wie viel Raum wir ihr geben.“ (L.B.)

Gefäßanomalien betreffen den ganzen Menschen. Seelische und soziale Probleme sind eine Folge oder Reaktion auf die mit der Erkrankung verbundenen Anforderungen. Das macht den Alltag und den Umgang mit diesen Problemen auf den ersten Blick nicht leichter, bedeutet aber, dass jeder Betroffene und seine Angehörigen dem nicht hilflos ausgeliefert sind. Sie können aktiv etwas beeinflussen, verändern und verbessern! Das Wissen um die Erkrankung, positive Lebenswege und Finden eigener Energiequellen geben Ideen und Kraft dazu.

Persönliche positive Erfahrungen durch die Erkrankung

Auch hier sind die Erfahrungen und Berichte unterschiedlich.

Viele Betroffene sehen gar keine positiven Erfahrungen.

Andere wiederum benennen ihre positiven Erfahrungen: Die Prioritäten im Leben werden klarer und wesentlicher, Toleranz fällt leichter. Die emotionale Verbundenheit mit Personen, die einem helfen ist groß. Man erfährt tatsächliche Hilfe, erlebt Offenheit von Mitmenschen und erkennt und akzeptiert menschliche Reaktionen ohne sie zu bewerten.

Einige berichten vom frühen Auseinandersetzen mit sich selber, von größerer Toleranz gegenüber anderen Problemen des Lebens, vom frühen Lernen, das eigene Recht einzufordern und einer geringeren Anfälligkeit für „äußerliche Lebensziele“ bereits in jungen Jahren.

Der Umgang mit den auftauchenden Schwierigkeiten in der Erkrankungsgeschichte kann zu positiven Kräften führen: Das Entwickeln von Disziplin und Durchhaltevermögen, das „Ich“ selbstbewusst wahrnehmen, rücksichtsvoll mit sich umgehen, eine gesunde Eigenliebe entwickeln und sehr bewusst vorhandene Freiheiten nutzen und genießen.

Dankbarkeit wird intensiv erlebt: Dankbarkeit für Menschen die zuhören, für Menschen, die einen medizinisch gut betreuen, für die Gesundheit in anderen Bereichen und für Phasen mit höherer Lebensqualität.

Der Status als Schwerbehinderter hat manchmal Vorteile, wie z. B. einen besseren Kündigungsschutz, erleichternde Arbeitsbedingungen, bezuschusster Autokauf und Umbaumassnahmen.

Und auch den Bundesverband und den Austausch mit anderen Betroffenen gefunden zu haben erleben einige als positive Lebenshilfe für sich. Im Bundesverband und bei Klinikaufenthalten sind Freundschaften entstanden. Durch das persönliche Engagement im Bundesverband ist es möglich, sich aktiv für die eigenen Interessen einzusetzen und die medizinische Behandlung und den Alltag für sich und andere zu verbessern. Das stärkt Selbstvertrauen, Kompetenz, das Annehmen der Erkrankung und ermöglicht Mitwirkung bei der eigenen Therapie.