Extremitätenlängendifferenz

  • Kapitel: Orthopädische Probleme bei Gefäßmalformationen

    Artikel: 3 von 9

    Update: 2020/03/05

  • Autor/en: Kertai, Michael Amir

Infolge von Gefäßmalformationen kommt es regelmäßig zu asymmetrischen Längen der Extremitäten.

Im Bereich der oberen Extremität spielen Längenunterschiede lediglich bei gewissen Bekleidungsstücken (z. B. Sakko) eine Rolle. Unterschiedliche Armlängen haben jedoch praktisch keine Auswirkungen auf die Funktionen im Alltag oder im Berufsleben, so dass praktisch nie die Indikation zu einer invasiven Therapie besteht.

Ganz anders sieht es mit Beinlängendifferenzen aus. Es ist zwar nach wie vor nicht endgültig geklärt, ab welchem Längenunterschied orthopädische Konsequenzen, wie z. B. Rückenschmerzen und Gelenkverschleiß (Arthrosen), zu erwarten sind. Es herrscht jedoch unter Orthopäden weitgehend Einigkeit, dass ab einer Beinlängendifferenz von 2 cm eine Therapie erfolgen sollte, da hierdurch die Statik relevant verändert wird.

Extremitätenlängendifferenzen sind entweder bei Geburt noch nicht vorhanden oder angeboren. Sie entwickeln sich im Laufe des Wachstums, wobei die Differenz in der Regel bis zum Wachstumsabschluss ständig zunehmend ist.

Ursache

Wieso es im Rahmen von Gefäßmalformationen zu Extremitätenlängendifferenzen kommt, ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Einerseits wäre eine Aktivierung der Wachstumsfugen durch eine vermehrte Durchblutung denkbar, andererseits wird die Aktivierung des Wachstums über Wachstumsmediatoren diskutiert beziehungsweise ein primäres Fehlwachstum als Teil der Anomalie in Form einer Mitbeteiligung von Knochen, Fettgewebe und Muskulatur im Rahmen der Gefäßfehlbildung als Syndrom.

Gegen die Annahme der rein durchblutungsbedingten Ursache spricht, dass etliche Fälle bekannt sind, bei denen zwar im MRT eine vermehrte Durchblutung im Bereich der Wachstumsfugen nachgewiesen werden konnte, jedoch keine Extremitätenverlängerung besteht.

Noch weiter verkompliziert wird die Ursachenforschung dadurch, dass es sowohl Hyperplasien, als auch Hypoplasien bei den gleichen Gefäßmalformationen gibt.

Hyper- und Hypoplasie , Hyper- und Hypotrophie

Häufig wird statt von einer Hyperplasie auch von einer Hypertrophie gesprochen. Der wesentliche Unterschied dieser beiden Begriffe liegt auf zellulärer Ebene. Bei der Hypertrophie kommt es zu einer Vergrößerung des Gewebes ohne Zunahme der Zellzahl, also nur durch Vergrößerung der Zellen. Bei der Hyperplasie nimmt auch die Zellzahl zu. Bezüglich des Knochens kommt es im Rahmen des Wachstums definitiv zur Zellvermehrung, sodass hier von einer Hyperplasie gesprochen werden sollte. Allerdings kann es bei Gefäßmalformationen durchaus auch zu einer Vergrößerung der Zellen (z. B. der umgebenden Muskel- und Fettzellen) kommen, sodass auch eine Kombination vorliegen kann.

Hyperplasie

Hyperplasien der Extremitäten stellen die häufigste knöcherne Mitbeteiligung bei Gefäßmalformationen dar. Sie kommen je nach Literatur bei ca. 10–30 % aller Patienten mit Krankheitsbeteiligung der Extremitäten vor.

Hyperplasien führen zu einem beschleunigten Wachstum des Knochens und können prinzipiell alle Knochen betreffen. Dabei gibt es solche Formen, bei denen das vermehrte Wachstum ausgewogen auf den ganzen Knochen verteilt verläuft, also z.B. Oberschenkel, Unterschenkel und Fuß proportional verlängert sind , aber auch solche Formen bei denen es zu einem disproportionierten, umschriebenen Wachstum kommt.

Eine Hyperplasie der Extremität ist sowohl bei den Slow-flow-Malformationen, also venösen, kapillären und lymphatischen Malformationen, als auch bei den arteriovenösen (fast-flow) Malformationen möglich.

Hypoplasie

Hypoplasien kommen bei einer Gefäßmalformation seltener vor und stellen unter allen Knochenmitbeteiligungen maximal ein Drittel aller Fälle dar. Hypoplasien findet man ausschließlich bei Patienten mit Slow-flow-Malformationen, nie aber bei Patienten mit arteriovenösen Fehlbildungen.

Im Gegensatz zu den Hyperplasien, die insbesondere im Rahmen von Syndromen regelmäßig disproportioniert vorkommen, sind malformationsbedingte Hypoplasien praktisch immer proportioniert.

Abzugrenzen von der Hypoplasie bei der Malformation sind solche Extremitätenverkürzungen und Umfangsverringerungen, die infolge eine Inaktivität entstehen (Hypotrophien). Dies ist bei Patienten mit chronischen Schmerzen nicht selten. Diese Patienten schonen die betroffene Extremität aufgrund von Schmerzen, was zu einer Verringerung der Muskelmasse (Umfangsverringerung) und einer Verlangsamung des Wachstums führen kann.

Kombination aus Hypo- und Hyperplasie

Wie soeben genannt, kann eine Hypotrophie auch inaktivitätsbedingt bei chronischen Schmerzen oder nach Eingriffen auftreten. Bei Patienten, die infolge der Malformationen einerseits ein beschleunigtes Knochenwachstum, andererseits infolge der Schmerzen eine Inaktivitätshypotrophie zeigen, findet man häufig eine Verlängerung der Extremität mit Verschmälerung des Umfanges. Auch das Tragen von Kompressionsware in hoher Kompressionsklasse bereits sehr früh kann zu einer Verschmälerung des Umfangs beitragen.

Untersuchung

Die Untersuchung der Beinlänge erfolgt bei allen stehfähigen Patienten im Stehen und im Seitenvergleich. Das Messen der absoluten Beinlänge spielt keine Rolle und kann unterbleiben.

Der stehende Patient wird von hinten betrachtet und dabei der Beckenstand analysiert. Am besten wird dies erreicht, indem die Lendengrübchen beobachtet und dann die beiden Spinae iliacae posteriores superiores sowie die Beckenkämme ertastet werden.

Wenn sich hier ein Beckenschiefstand zeigt, wird dieser durch Unterlegen von Brettchen definierter Höhe unter den Fuß der kürzeren Extremität ausgeglichen.

Die Höhe der unterlegten Brettchen entspricht der Beinlängendifferenz.

Die Problematik dieser Untersuchung besteht darin, dass zunächst nicht unterschieden werden kann, ob die Beinlängendifferenz aufgrund unterschiedlicher Länge der Ober- oder Unterschenkel, der Fußhöhe oder einer Kombination dieser Faktoren begründet ist.

Insbesondere bei Patienten mit CLOVES-Syndrom stellt dies ein besonderes diagnostisches Problem dar, da hier häufig eine massive Vermehrung des Fußsohlenfettes vorkommt.

Der Ursprung der Beinlängendifferenz kann durch Untersuchung in Bauchlage jedoch weiter objektiviert werden. Hier kann die Länge des Unterschenkels und des Fußes zusammengenommen im Seitenvergleich betrachtet werden.

Ergibt sich dabei beispielsweise kein Längenunterschied, war jedoch bei der Untersuchung im Stehen ein Beckenschiefstand vorhanden, so kann die Ursache auf unterschiedlich lange Oberschenkel zurückgeführt werden. Auch bei dieser Untersuchung kann jedoch bei deutlichen Fußdeformitäten nicht auf die reine ossäre Länge der Unterschenkel geschlossen werden.

Zusätzlich zur Länge der Extremität sollte auch der Umfang betrachtet und ggf. zur Verlaufskontrolle an den immer wieder gleichen Stellen (Dokumentation) gemessen werden. Dies kann einen Rückschluss auf die muskuläre Aktivität liefern.

Röntgendiagnostik

Die soeben genannte körperliche Untersuchung stellt zunächst die einzig notwendige Diagnostik zur Beurteilung einer Beinlängendifferenz dar.

Erst zur Planung einer operativen Behandlung muss eine Röntgenaufnahme als sog. Ganzbeinachsaufnahme erfolgen. An dieser kann die genaue Länge der Ober- und Unterschenkelknochen (Femur und Tibia) gemessen werden und somit der Ort der notwendigen Therapie bestimmt werden. Gleichzeitig wird oft das Knochenalter anhand einer Handaufnahme bestimmt.

Therapie der Extremitätenlängendifferenz

Eine Therapie der malformationsbedingten Hyper- oder Hypoplasie ist heute nur bedingt kausal möglich (mTOR-Inhibitoren), jedoch können die Auswirkungen durchaus oft behandelt werden. Durch die in den Eingangskapiteln zu den Erkrankungen (AVM, HHT, VM, LM, KM) beschriebenen Therapieverfahren der Gefäßmalformationen kann in Einzelfällen die Wachstumsdynamik gerade von arteriovenösen Malformationen positiv beeinflusst werden.

Leider lässt sich jedoch nicht vorhersagen, ob die Behandlung der Gefäße an sich zu einer Beeinflussung des Wachstums der betroffenen Extremität führen wird oder nicht.

Dennoch ist diese Therapie zunächst bei allen Extremitätenlängendifferenzen zu erwägen und ermöglicht oder erleichtert das offen operative Vorgehen.

Kommt es trotz Behandlung der Gefäßmalformation weiter zu einer Zunahme der Extremitätenlängendifferenz oder ist eine kausale Behandlung nicht möglich, so muss eine orthopädische oder orthopädietechnische Maßnahme erwogen werden.

Indikation zur Therapie

Ab einer Beinlängendifferenz von 2 cm wird am wachsenden Skelett in der Regel eine Behandlung empfohlen. Interessanterweise sind die Zusammenhänge zwischen Beinlängendifferenz und möglichen Folgen wie Skoliose, Rückenschmerzen oder erhöhtem Gelenkverschleiß (Arthrose) bis heute nicht eindeutig geklärt. Dennoch wird die 2 cm Grenze weitestgehend akzeptiert.

Entscheidend für die Therapie ist die Dynamik des Längenunterschiedes. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass die Extremitätenlängendifferenzen im Wachstum zunehmen. Der zu erwartende Längenunterschied bei Wachstumsabschluss lässt sich z. B. mit der sog. Multiplier-Methode nach Paley abschätzen. So ist z. B. bei einem Patienten mit einer Beinlängendifferenz von 2 cm im Alter von 5 Jahren mit einer Differenz von 3,6 cm bei Wachstumsabschluss zu rechnen.

Diese Methode ist jedoch sehr anfällig für Fehler, da sich das Knochenwachstum bei Gefäßmalformationen sehr unregelmäßig verhält. Wesentlich aussagekräftiger ist die jährliche Kontrolle der Patienten mit Messung der Differenz und der Körpergröße. Hierdurch lässt sich für jeden Patienten individuell eine Prognose erstellen.

Zwischenzeitlich durchgeführte Behandlungen der Gefäßmalformation (z. B. interventionelle Sklerosierungen oder Embolisationen) können die Dynamik weiter beeinflussen.

Orthopädietechnische Therapie

Durch die Verwendung von Einlagen oder Schuherhöhungen können im Prinzip alle Beinlängendifferenzen ausgeglichen werden.

Einlagen können jedoch praktisch nur bis zu einer Höhe von etwa 1 cm verwendet werden, da sie darüber hinaus zu viel Platz im Schuh einnehmen würden.

Die Limitation für Schuherhöhungen, also die Erhöhung der Schuhsohle ist v. a. kosmetisch zu sehen. Insbesondere Jugendliche im Pubertätsalter haben mit den stigmatisierenden orthopädietechnischen Anpassungen der Schuhe zu kämpfen, sodass dies eine häufige Indikation zur operativen Therapie darstellt.

Operative Therapie

Prinzipiell stellt eine Beinlängendifferenz von mehr als 2 cm eine relative Operationsindikation dar. Je stärker der Längenunterschied ausgeprägt ist, desto größerer Konsens besteht über die Notwendigkeit einer chirurgischen Maßnahme, um die Körperstatik positiv zu beeinflussen.

Grundsätzlich muss zwischen den Therapieoptionen bei Hyper- und Hypoplasien unterschieden werden.

Therapie der Hyperplasie (Beinverlängerung)

Im Falle einer Beinverlängerung, also Hyperplasie, wird in der Regel eine Wachstumsbremsung angestrebt. Dies geschieht durch Eingriffe im Bereich der Hauptlängenwachstumszonen der Knochen, den Epiphysenfugen, die auf unterschiedliche Art am weiteren Knochenlängenwachstum gehindert werden (Epiphysiodese).

Dabei unterscheidet man:

  • definitive (permanente) Verfahren
  • reversible (temporäre) Verfahren

Permanente Epiphysiodese

Definitive Verfahren führen zu einem vollkommenen Stopp des Knochenlängenwachstums an der behandelten Wachstumsfuge. Hierfür stehen unterschiedliche Methoden zur Verfügung, wobei das Ausbohren der Wachstumsfuge (Methode nach Canale) die am weitesten verbreitete darstellt. Sie kann prinzipiell an allen Wachstumsfugen angewandt werden.

Theoretisch kann man auch noch während des Längenwachstums im Kindes- und Jugendalter die zu erwartende zukünftige maximale Beinlängendifferenz bis zum Wachstumsabschluss berechnen (z. B. maximal 5 cm). Dadurch könnte man den idealen Zeitpunkt zur Durchführung des definitiven Verschlusses der Wachstumsfuge bestimmen (in unserem Beispiel also zu dem Zeitpunkt, an dem das kürzere Bein noch genau 5 cm wachsen würde, könnte man am längeren Bein eine permanente Epiphysiodese durchführen). Leider ist dies bei Patienten mit Gefäßmalformationen nicht immer möglich.

Notwendige Voraussetzungen für ein solches Vorgehen sind nämlich:

  • Eine gleichbleibende Dynamik des Wachstums bis zum Wachstumsabschluss und die daraus folgende gute Vorhersagbarkeit der zu erwartenden Beinlängendifferenz.
  • Ein begrenztes Ausmaß der Beinlängendifferenz, damit bis zum Zeitpunkt der definitiven Therapie gut mit orthopädietechnischen Maßnahmen behandelt werden kann.

Leider sind bei Patienten mit Gefäßmalformationen diese beiden Punkte nicht immer gegeben, sodass ein temporäres Verfahren gewählt wird.

Temporäre Epiphysiodese

Temporäre Epiphysiodesen werden durch das vorübergehende Einsetzen von Implantaten im Bereich der Wachstumsfugen erreicht, die nach einer bestimmten Zeit wieder entfernt werden können. Obwohl es etliche Implantate für diese Operation gibt, haben sie alle das gleiche Prinzip, bei dem die Wachstumsfuge fest überbrückt („geklammert“) und dadurch im Wachstum gehemmt wird .

Dieses operative Vorgehen ermöglicht es, eine Beinlänge zunächst auszugleichen und dann durch Entfernen der Implantate die behandelte Extremität weiter wachsen zu lassen. In vielen Fällen muss dann jedoch kurz vor dem Wachstumsabschluss erneut eine Epiphysiodese durchgeführt werden.

Therapie der Hypoplasie (Beinverkürzung)

Epiphysiodese der Gegenseite

Epiphysiodesen können im Falle einer Hypoplasie auch auf der gesunden Gegenseite eingesetzt werden. Zu beachten ist jedoch hierbei, dass dadurch die Endgröße des Patienten herabgesetzt wird. Im Gegensatz zur Behandlung bei Hyperplasien wird durch die Wachstumsbremsung eine eigentlich normal lange, gesunde Extremität verkürzt.

Dies spielt neben der dadurch reduzierten Endgröße auch bezüglich der Proportion von Oberkörper zu Beinen eine wesentliche Rolle.

Daher gibt es für dieses Vorgehen zwei Limitationen:

  • Der Patient steht einer Verringerung der zu erwartenden Endgröße kritisch entgegen.
  • Mehr als 5 cm auszugleichende Längendifferenz. Jenseits dieser Grenze ist die daraus resultierende Fehlproportion von Oberkörper zu Beinen nicht mehr akzeptabel

Da Hypoplasien in der Regel in ihrer Wachstumsdynamik eher relativ konstant sind, kann in diesen Fällen meist eine permanente Epiphysiodese zum berechneten Zeitpunkt erfolgen.

Verlängerung der betroffenen Seite

Prinzipiell wäre die Verlängerung der betroffenen kürzeren Seite physiologischer als das Bremsen der Gegenseite. Allerdings gibt es häufig Gründe, die gegen dieses Vorgehen sprechen:

  • Deutlich aufwändigere operative Methode
  • Hohes Blutungsrisiko infolge der Gefäßmalformation und der notwendigen Osteotomie
  • Hohes Thromboserisiko im Falle einer venösen Malformation
  • Oft werden während der Extraktionsphase die Schmerzen im betroffenen Bein stärker
  • Vorbestehende chronische Schmerzen
  • Vorbestehende Kontrakturen

Sollte trotz der genannten Limitationen die Indikation zu einer Extremitätenverlängerung getroffen werden können, so ist heutzutage ein intramedulläres Implantat einem externen Fixateur soweit möglich vorzuziehen.